Zur Rechtmäßigkeit mehrerer Abmahnungen einer Lehrkraft im Schuldienst

Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26.01.2016 – 6 Sa 352/14

Einzelfallentscheidung zur Rechtmäßigkeit mehrerer Abmahnungen gegenüber einer Lehrkraft im Schuldienst.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor
I.

Die Berufung des Klägers und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Halle vom 16.05.2014 – 7 Ca 2512/13 – werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Parteien je zur Hälfte.

II.

Der Tenor des Urteils des Arbeitsgerichts Halle vom 16.05.2014 wird wie folgt berichtigt:

1. Das beklagte Land wird verurteilt, die dem Kläger erteilte Abmahnung vom 06.10.2011 aus dessen Personalakte zu entfernen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III.

Die erstinstanzliche Kostenentscheidung wird wie folgt abgeändert:

2. Die Kosten des Rechtstreits tragen die Parteien mit Ausnahme der durch die Anrufung des Arbeitsgerichts Magdeburg angefallenen Kosten je zur Hälfte. Die durch die Anrufung des Arbeitsgerichts Magdeburg angefallenen Kosten werden dem Kläger auferlegt.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Entfernung zweier dem Kläger von dem beklagten Land erteilten Abmahnungen.

2
Der Kläger ist seit 01.08.2003 als Lehrer mit den Fächern Biologie/Sport für das beklagte Land, zurzeit am Gymnasium in B, tätig.

3
Das beklagte Land erteilte dem Kläger mit Schreiben vom 06.10.2011 (Bl. 13 ff d. A.) eine Abmahnung, weil der Kläger gegenüber einer Schülerin der damaligen Klasse 9a nach einem missglückten Biologievortrag, als diese weinend vor der Klasse stand, äußerte, wenn sie psychische Probleme habe, möge sie woanders hingehen. Weiter stützt das beklagte Land die Abmahnung darauf, dass der Kläger am 12.05.2011 eine Klassenarbeit im Fach Biologie an die Schüler der damaligen Klasse 9a zurückgegeben hat, obwohl aufgrund des schlechten Ergebnisses der Klassenarbeit diese nach dem Leistungsbewertungserlass dem Schulleiter vorab zur Genehmigung hätte vorgelegt werden müssen. Schlussendlich rügt das beklagte Land in der vorgenannten Abmahnung, dass der Kläger die Klassenarbeit einer Schülerin der Klasse 9a – eine talentierte Geigenspielerin – mit dem Kommentar versehen hat: „Mein Tipp, konsequent weiter Geige üben, mit Bio wird ’s nichts mit Geld verdienen.“

4
Diesem Kommentar vorausgegangen waren mehrere Gespräche zwischen dem Kläger und der Schülerin über deren schlechte Leistungen im Fach Biologie. Die Schülerin hatte hierzu erklärt, sie habe keine Zeit zum Üben für dieses Fach, weil sie ihrerseits den Schwerpunkt auf das Geigenspiel gelegt habe und erwäge, dieses zu ihrem späteren Beruf zu machen.

5
Eine weitere Abmahnung erteilte das beklagte Land dem Kläger mit Schreiben vom 30.11.2012 (Bl. 20 ff d. A.), weil der Kläger am 11.01.2012 den Schüler M. (Klasse 6c) aufgefordert hatte, vor die Klasse zu treten und sich zu schämen, da er die Hausaufgaben im Fach Biologie nicht angefertigt habe. M. trat darauf vor die Klasse und sah schamvoll zu Boden. Der Kläger äußerte sodann, er möge sich stärker schämen und forderte den Schüler schließlich auf: „Geißele Dich!“. Nach einer Demonstration durch den Kläger, was darunter zu verstehen sei, schlug sich der Schüler selbst mit der Hand auf die Wange und wiederholte diesen Vorgang, nachdem der Kläger ihn aufgefordert hatte, sich stärker zu geißeln.

6
Das beklagte Land hat dem Kläger vor Aufnahme der vorgenannten Abmahnungen in die Personalakte Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, wovon er durch Einreichung von Schriftsätzen Gebrauch gemacht hat. Ebenso hat das beklagte Land vor Ausspruch der Abmahnungen den zuständigen Lehrerbezirkspersonalrat angehört. Dieser hat jeweils der Erteilung einer Abmahnung widersprochen. Hinsichtlich der Abmahnung vom 30.11.2012 hat das beklagte Land in Kopie ein diesbezügliches Anhörungsformular vorgelegt, das auch die Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten ausweist (Bl. 137 f d. A.).

7
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, wobei der Inhalt der vorgenannten Abmahnungen zwischen den Parteien im Wesentlichen unstreitig ist, die Abmahnungen seien zu Unrecht erteilt und aus der Personalakte zu entfernen. In der Abmahnung vom 06.10.2011 habe das beklagte Land die dort abgemahnten Vorfälle nicht konkret genug beschrieben. Im Übrigen sei hinsichtlich jener Vorfälle die Erteilung einer Abmahnung als unverhältnismäßig anzusehen. Bei seiner Lehrtätigkeit – so hat der Kläger behauptet – habe das beklagte Land ihn im Vergleich zu anderen Lehrkräften einem gänzlich anderen Regime unterworfen. Das beklagte Land arbeite systematisch darauf hin, ihn aus dem Dienst zu entfernen. Im Übrigen – so hat der Kläger weiter gemeint – seien schon aufgrund des zwischenzeitlich eingetretenen Zeitablaufs die Abmahnungen zu entfernen. Eine Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten vor Ausspruch der zweiten Abmahnung werde bestritten.

8
Der Kläger hat beantragt,

9
das beklagte Land zu verurteilen, die dem Kläger erteilten Abmahnungen vom 06.10.2011 sowie vom 30.11.2012 aus dessen Personalakte zu entfernen.

10
Das beklagte Land hat beantragt,

11
die Klage abzuweisen.

12
Nach seiner Auffassung seien die streitgegenständlichen Abmahnungen dem Kläger zu Recht erteilt worden. Das dort aufgezeigte Verhalten stelle jeweils einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 SchulG-LSA dar, wonach Schüler zur Achtung und Würde zu erziehen seien. Mit diesen Vorgaben sei das Verhalten des Klägers nicht in Einklang zu bringen. Insbesondere seine Aufforderung an den Schüler M., „sich zu geißeln“, stelle einen eklatanten Verstoß gegen diese Bestimmung dar, wobei es nicht darauf ankomme, wie der Schüler, die anderen Mitschüler und deren Eltern dieses Vorgehen subjektiv bewertet haben.

13
Das Arbeitsgericht Halle hat, nachdem der Rechtsstreit von dem zunächst angerufenen Arbeitsgericht Magdeburg dorthin verwiesen worden war, mit Urteil vom 16.05.2014 das beklagte Land verurteilt, die Abmahnung vom „06.10.2012“ aus der Personalakte des Klägers zu entfernen, jedoch die Klage – ohne dies in den Tenor ausdrücklich aufzunehmen – gegen die Abmahnung vom 30.11.2012 abgewiesen und die Kosten des Rechtsstreits den Parteien je zur Hälfte auferlegt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, das beklagte Land sei zur Entfernung der Abmahnung vom 06.10.2011 verpflichtet, weil nicht alle in der Abmahnung enthaltenen Vorgänge eine abmahnungswürdige Pflichtverletzung darstellen. Hingegen sei die Abmahnung vom 30.11.2012 zu Recht erteilt worden. Der Kläger habe durch sein Verhalten gegenüber dem Schüler M. gegen seine vertraglichen Pflichten verstoßen. Er habe diesen Schüler durch die Aufforderung „sich zu geißeln“ herabgewürdigt. Dies sei mit seinen Pflichten nicht vereinbar. Dabei sei es nicht entscheidend, wie die Beteiligten subjektiv diesen Vorgang eingeschätzt haben. Abzustellen sei auf die objektive Bedeutung. Wegen der weiteren Einzelheiten der angefochtenen Entscheidung wird auf Blatt 160 bis 170 der Akte verwiesen.

14
Gegen dieses, beiden Parteien am 25.07.2014 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22.08.2014 und das beklagte Land bereits am 18.08.2014 Berufung eingelegt. Der Kläger hat seine Berufung nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 27.10.2014 am 27.10.2014 begründet. Die Berufung des beklagten Landes ist am 25.09.2014 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangen.

15
Mit ihren wechselseitigen Rechtsmitteln verfolgen die Parteien ihre erstinstanzlichen Klageziele weiter.

16
Der Kläger verteidigt hinsichtlich der Abmahnung vom 06.10.2011 die angefochtene Entscheidung und vertritt hinsichtlich der Abmahnung vom 30.11.2012 insbesondere die Auffassung, sein Verhalten stelle keine Herabwürdigung des Schülers M. dar. Entscheidung für die Beurteilung des Vorfalles seien die konkreten Umstände. Alle Beteiligten haben die Situation als „scherzhaft“ empfunden.

17
Jedenfalls seien die Abmahnungen wegen Zeitablaufs aus der Personalakte zu entfernen, da das beklagte Land entsprechend beamtenrechtlicher Regelungen Abmahnungen nach zwei Jahren aus der Personalakte nehme.

18
Der Kläger beantragt,

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1. das Urteil des Arbeitsgerichts Halle vom 16.05.2014 teilweise abzuändern und das beklagte Land zu verurteilen, die Abmahnung vom 30.11.2012 aus seiner Personalakte zu entfernen;

20
2. die Berufung des beklagten Landes zurückzuweisen.

21
Das beklagte Land beantragt,

22
1. das Urteil des Arbeitsgerichts Halle vom 16.05.2014 teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen;

23
2. die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

24
Das beklagte Land verteidigt ebenfalls, soweit es die Abmahnung vom 30.11.2012 betrifft, die angefochtene Entscheidung. Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht jedoch das beklagte Land verurteilt, die Abmahnung vom 06.10.2011 aus der Personalakte des Klägers zu entfernen. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei der Kläger hinsichtlich sämtlicher dort aufgeführter Vorfälle zu Recht abgemahnt worden. So sei der Kommentar unter der Biologiearbeit einer Schülerin der Klasse 9a zwar vordergründig als „cool“ einzustufen. Der Sache nach enthalte er jedoch ebenfalls eine Herabwürdigung dieser Schülerin. Statt die Schülerin zu motivieren, im Fach Biologie bessere Leistungen zu erbringen, werde ihr bescheinigt, in diesem Fach sei für sie die Lage „hoffnungslos“.

25
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe
A.

26
Die Berufung des Klägers und jene des beklagten Landes sind zulässig. Es handelt sich jeweils um das gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 ArbGG statthafte Rechtsmittel. Die Parteien haben die Fristen des § 66 Abs. 1 ArbGG eingehalten.

27
Auch der Kläger ist durch die Entscheidung des Arbeitsgerichts beschwert. Dieses hat – insoweit ist Ziffer 1 des Tenors zu berichtigen (§ 319 ZPO) – die Klage hinsichtlich der Abmahnung vom 30.11.2012 als unbegründet abgewiesen. Dies folgt eindeutig aus den Entscheidungsgründen (S. 9).

B.

28
Die Berufung des beklagten Landes ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht das beklagte Land verurteilt, die Abmahnung vom 06.10.2011 – hinsichtlich des Datums war der Urteilstenor ebenfalls gemäß § 319 ZPO zu berichtigen – aus der Personalakte des Klägers zu entfernen. Dem Kläger steht ein solcher Anspruch aus §§ 1004 analog, 242 BGB zu. Zutreffend hat das Arbeitsgericht seiner Entscheidung die hierzu bestehende gefestigte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zugrunde gelegt:

29
„Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 22.02.2001 – 6 AZR 398/99 zitiert über Juris; 27.11.1985 – 5 AZR 101/84BAGE 50, 202; 15.07.1992 – 7 AZR 466/91BAGE 71, 14; 14.09.1994 – 5 AZR 632/93BAGE 77, 378; 30.05.1996 – 6 AZR 537/95 – AP BGB § 611 Nebentätigkeit Nr. 2) kann der Arbeitnehmer in entsprechender Anwendung der §§ 242, 1004 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus der Personalakte verlangen.

30
Bei der Abmahnung handelt es sich um die Ausübung eines arbeitsvertraglichen Gläubigerrechts durch den Arbeitgeber. Als Gläubiger der Arbeitsleistung weist er den Arbeitnehmer als seinen Schuldner auf dessen vertragliche Pflichten hin und macht ihn auf die Verletzung dieser Pflichten aufmerksam. Zugleich fordert er ihn für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auf und kündigt, wenn ihm dies angebracht erscheint, individualrechtliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung an (BAG 30.05.1996 – 6 AZR 537/95 und 22.02.2001 – 6 AZR 398/99 – aaO mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).

31
Eine solche missbilligende Äußerung des Arbeitgebers in Form einer Abmahnung ist geeignet, den Arbeitnehmer in seinem beruflichen Fortkommen und seinem Persönlichkeitsrecht zu beeinträchtigen. Deshalb kann der Arbeitnehmer die Beseitigung dieser Beeinträchtigung verlangen, wenn die Abmahnung formell nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist (vgl. BAG 16.11.1989 – 6 AZR 64/88BAGE 63, 240), unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält (BAG 27.11.1985 – 5 AZR 101/84 – aaO), auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht (BAG 30.05.1996 – 6 AZR 537/95 – aaO), den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt (vgl. nur BAG 31.08.1994 – 7 AZR 893/93AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 98) oder kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers am Verbleib der Abmahnung in der Personalakte mehr besteht (vgl. BAG 30.05.1996 – 6 AZR 537/95 – aaO mwN zur Rechtsprechung des BAG). Nachweispflichtig dafür, dass die in der Abmahnung enthaltenen Tatsachenbehauptungen richtig sind, die damit behauptete Pflichtverletzung tatsächlich erfolgt ist, ist der Arbeitgeber (vgl. etwa: BAG 23.04.1986 – 5 AZR 340/85 zitiert über Juris). Stützt der Arbeitgeber eine Abmahnung auf mehrere Vertragsverstöße, die vom Arbeitnehmer bestritten werden und ist auch nur eine dieser vom Arbeitgeber behaupteten Pflichtverletzungen nicht zutreffend oder nicht erwiesen, so ist die Abmahnung insgesamt ungerechtfertigt und aus der Personalakte des Arbeitnehmers zu entfernen (BAG 13.03.1991 – 5 AZR 133/90, AP § 611 BGB Abmahnung Nr.5; LAG Köln 15.06.2007 -11 Sa 243/07 zitiert über Juris).

32
Von einer formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Abmahnung kann nur gesprochen werden, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer deutlich und ernsthaft ermahnt, ihn auffordert, ein genau bezeichnetes Fehlverhalten zu ändern oder aufzugeben sowie für den Wiederholungsfall arbeitsrechtliche Konsequenzen androht. Die genaue Bezeichnung des Fehlverhaltens erfordert einerseits, dass der Arbeitgeber den der Abmahnung zugrundeliegenden Sachverhalt konkret darlegt und andererseits, dass er konkret erklärt, aus welchem Grund er das Verhalten des Arbeitnehmers für pflichtwidrig hält (LAG Düsseldorf 24.07.2009 – 9 Sa 194/09 zitiert über Juris; BAG 18.01.1980 – 7 AZR 75/78, AP Nr. 3 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung). Eine Abmahnung ist insbesondere auch dann aus der Personalakte zu entfernen, wenn sie statt eines konkret bezeichneten Fehlverhaltens nur pauschale Vorwürfe enthält (vgl. BAG 27.11.2008 – 2 AZR 675/07, NZA 2009, 842; 09.08.1984 – 2 AZR 400/83, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 12; Kleinebrink Abmahnung 2.Aufl. Rn. 571; HaKo/Fiebig 3. Aufl. § 1 KSchG Rn. 266; APS/Dörner 3. Aufl. § 1 KSchG Rn. 349). Pauschale Vorwürfe, die weder hinreichend genaue zeitliche Angaben noch Einzelheiten und Umstände der angesprochenen Vorfälle enthalten, sind regelmäßig geeignet, den Arbeitnehmer in ungerechtfertigter Weise in seinem beruflichen Fortkommen zu behindern (LAG Köln 12.08.2005 – 4 Sa 412/05 zitiert über Juris und 15.06.2007 -11 Sa 243/07 aaO.).“

33
Danach ergibt sich ungeachtet der zeitlichen Dimension ein Anspruch auf Entfernung der Abmahnung vom 06.10.2011, weil nicht sämtliche dort benannten Vorfälle eine abmahnungsrelevante Pflichtverletzung zum Gegenstand haben.

34
Jedenfalls die von dem beklagten Land gerügte Kommentierung einer Klassenarbeit dahingehend, die Schülerin möge weiter konsequent Geige üben, mit Biologie werde es nichts mit dem Geld verdienen, erreicht noch nicht diese Schwelle. Hierin liegt nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung der von dem beklagten Land nicht bestrittenen vorangegangenen Gespräche zwischen dem Kläger und der Schülerin über ihre nachlassenden Leistungen im Fach Biologie noch kein Verstoß des Klägers gegen die ihn aus §§ 241 Abs. 2 BGB i. V. m. § 1 Abs. 2 Nr. 1 SchulG-LSA, wonach der Kläger Schüler und Schülerinnen u. a. zur Achtung der Würde des Menschen und zur Selbstbestimmung zu erziehen hat, i. V. m. Artikel 2 Abs. 1 GG (Persönlichkeitsrecht der Schülerin) treffende vertragliche Pflicht, bei Umsetzung des Erziehungsauftrages Schüler nicht herabzuwürdigen.

35
Eine solche Herabwürdigung ergibt sich aus der Kommentierung der Klassenarbeit nicht. Zuzugeben ist dem beklagten Land zwar, dass die Formulierung isoliert betrachtet inhaltlich dahin verstanden werden kann, dass der Kläger der Schülerin bescheinigt, sie sei im Fach Biologie ein „hoffnungsloser Fall“ und ihr damit entgegen seinem Bildungsauftrag die Motivation nimmt, an einer Verbesserung ihrer Leistungen zu arbeiten. Der Aussagegehalt wird jedoch durch die vorangegangenen Gespräche des Klägers mit der Schülerin relativiert. Diese hat selber eingeräumt, sie habe, weil sie den Schwerpunkt auf das Geigenspielen, das durchaus eine berufliche Zukunft für sie sein könne, gesetzt habe, nicht ausreichend Zeit, um auch im Fach Biologie das erforderliche Wissen zu verinnerlichen. Durch das Aufgreifen dieser „Strategie“ in dem Kommentar zur Klassenarbeit wird der Schülerin also nicht „unvorbereitet“ attestiert, sie sei für das Fach Biologie ungeeignet. Vielmehr wird in diesem speziellen Fall im Kern ihre eigene Aussage zu den Gründen für ihre schlechten Leistungen von dem Kläger lediglich wiedergegeben. Die gewählte Formulierung an sich ist nach ihrer Wortwahl ebenfalls (noch) nicht geeignet, die Schülerin herabzuwürdigen.

C.

36
Auch die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht die Klage – insoweit war der Urteilstenor gemäß § 319 ZPO zu berichtigen – auf Entfernung der Abmahnung vom 30.11.2012 aus der Personalakte des Klägers abgewiesen.

37
Die Abmahnung ist weder formell noch materiell zu beanstanden. Sie war auch nicht aufgrund Zeitablaufs zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aus der Personalakte zu entfernen.

I.

38
Die Abmahnung weist keine formellen Mängel auf. Insbesondere ist sie hinreichend bestimmt. Das beklagte Land hat das der Abmahnung zugrunde liegende Verhalten des Klägers im Abmahnungsschreiben detailliert beschrieben. Wenn das beklagte Land im weiteren Text des Schreibens dieses Verhalten als „Vorführung“ und „Demütigung“ des betroffenen Schülers bezeichnet, so wird damit der abmahnungsrelevante Sachverhalt nicht verändert oder ergänzt, sondern lediglich bewertet.

II.

39
Die Abmahnung ist auch inhaltlich nicht zu beanstanden. Das beklagte Land hat das Verhalten gegenüber dem Schüler M. zu Recht als Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten des Klägers gerügt. Der Kläger hat mit seinem Verhalten gegen seine vertragliche Nebenpflicht, die ihm anvertrauten Schüler nicht herabzuwürdigen, verstoßen (§ 241 Abs. 2 BGB i. V. m. § 1 Abs. 2 SchulG-LSA i. V. m. Artikel 2 Abs. 1 GG). Entgegen seiner Auffassung stellt sein Verhalten am 11.01.2012 eine solche Herabwürdigung dar.

40
1. Dabei kommt es – wie das Arbeitsgericht bereits zutreffend ausgeführt hat – nicht darauf an, ob der Schüler und/oder die anwesenden Mitschüler sowie deren Eltern sein Verhalten entsprechend bewertet haben. Entscheidend ist vielmehr eine objektive Betrachtung. Der Lehrer hat seinen Unterricht so zu gestalten, dass Verhaltensweisen, die objektiv geeignet sind einen Schüler herabzuwürdigen, dort nicht auftreten. Würde man insoweit auf die jeweils gerade bestehende „Stimmungslage“ der Schüler oder die subjektive Einstellung der Eltern abstellen, wäre eine verlässliche Unterrichtsgestaltung nicht möglich. Mit anderen Worten: Entscheidend ist, wie sich der Lehrer als Vertrauensperson artikuliert, nicht wie der jeweilige Schüler und/oder betroffene Eltern seine objektiv herabwürdigenden Verhaltensweisen „gerade“ bewerten. Auch wenn die betroffenen Schüler das objektiv herabwürdigende Verhalten als „Scherz“ auffassen, so wird dennoch gegenüber Dritten, die hiervon Kenntnis erlangen, die konkrete Umsetzung des aus § 1 SchulG-LSA folgenden Auftrages massiv in Zweifel gezogen (vgl. insoweit auch BAG 09.06.2011 – 2 AZR 323/10 zur Definition der Belästigung gemäß § 3 AGG als besondere – hier allerdings nicht vorliegende – Form der Herabwürdigung).

41
Unbeachtlich ist auch der Umstand, dass der Kläger nach seinem Vorbringen den Vorfall als Scherz aufgefasst hat. Zur Rechtmäßigkeit einer Abmahnung bedarf es lediglich eines objektiven Pflichtverstoßes. Subjektiv vorwerfbares Verhalten ist insoweit nicht erforderlich (BAG 12.01.1988 – 1 AZR 219/86 – juris Rn. 26).

42
2. Bei objektiver Betrachtung stellt die Aufforderung an den Schüler M., sich vor der versammelten Klasse „zu geißeln“, eine Herabwürdigung des Schülers dar. Dieser wird hierdurch der Lächerlichkeit Preis gegeben, ohne dass eine pädagogische Rechtfertigung in Bezug auf den Anlass – nicht erstellte Hausaufgaben – zu erkennen ist.

43
3. Die Erteilung einer Abmahnung erscheint weiter nicht als unverhältnismäßig. Insbesondere war das beklagte Land nicht gehalten, den Pflichtverstoß mit dem milderen Mittel einer Ermahnung zu sanktionieren. Das Verhalten des Klägers – auch unter Berücksichtigung der vorangegangenen Vorfälle (Abmahnung vom 06.10.2011) stellt keinen nur geringfügigen Verstoß gegen seine vertraglichen Pflichten dar. Betroffen ist der Kernbereich derselben. Die Aufforderung zur „Geißelung“ vor der versammelten Klasse wegen nicht erledigter Hausaufgaben erscheint auch von der Intensität her der Kammer nicht mehr als eine „Bagatelle“. Der betroffene Schüler befindet sich dabei über einen nicht unerheblichen Zeitraum – anders als z. B. bei einer kurzen abfälligen Bemerkung über seine Leistung – in einer objektiv herabwürdigenden Situation.

III.

44
Das Entfernungsverlangen ist schlussendlich nicht wegen Zeitablaufs begründet.

45
1. Mit einer Abmahnung übt der Arbeitgeber seine arbeitsvertraglichen Gläubigerrechte in doppelter Hinsicht aus. Zum einen weist er den Arbeitnehmer als seinen Schuldner auf dessen vertragliche Pflichten hin und macht ihn auf die Verletzung dieser Pflichten aufmerksam (Rüge- und Dokumentationsfunktion). Zum anderen fordert er ihn für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auf und kündigt, sofern ihm dies angebracht erscheint, individualrechtliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung an (Warnfunktion).

46
Ein Anspruch auf Entfernung einer zu Recht erteilten Abmahnung setzt demnach nicht nur voraus, dass die Abmahnung ihre Warnfunktion verloren hat. Der Arbeitgeber darf auch kein berechtigtes Interesse mehr an der Dokumentation der gerügten Pflichtverletzung haben.

47
Eine Abmahnung kann für eine spätere Interessenabwägung bei einer verhaltensbedingten Kündigung auch dann noch Bedeutung haben, wenn sie ihre kündigungsrechtliche Warnfunktion verloren hat. Gleichwohl besteht ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an der Dokumentation einer Pflichtverletzung nicht zwangsläufig für die gesamte Dauer des Arbeitsverhältnisses. So kann ein hinreichend lange zurückliegender, nicht schwerwiegender und durch beanstandungsfreies Verhalten faktisch überholter Pflichtenverstoß seine Bedeutung für eine später erforderlich werdende Interessenabwägung gänzlich verlieren. Eine nicht unerhebliche Pflichtverletzung im Vertrauensbereich wird demgegenüber eine erhebliche Zeit von Bedeutung sein (BAG 19.07.2012 – 2 AZR 782/11).

48
Bei Anwendung dieser Rechtssätze besteht nach wie vor ein berechtigtes Interesse des beklagten Landes an dem Verbleib der Abmahnung in der Personalakte des Klägers. Der Pflichtverstoß ist nicht faktisch überholt. Der Kläger ist weiter als Lehrer tätig. Nach dem sich bietenden Sachverhalt hat sein Unterrichtsstil mehrfach Anlass zur Beanstandung gegeben. Insbesondere sein in der Abmahnung vom 06.10.2011 beschriebenes Verhalten gegenüber einer Schülerin, die einen Vortrag im Fach Biologie gehalten hat, und der dort weiter abgemahnte Kommentar unter einer Klassenarbeit im Fach Biologie – beides stellt der Kläger bezogen auf die Faktenlage nicht streitig – machen dies deutlich. Auch wenn bezüglich dieser Vorfälle selbst eine Abmahnung nicht rechtswirksam erteilt worden ist, so begründen jene doch ein berechtigtes Interesse des beklagten Landes an einer weiteren Dokumentation des in der Abmahnung vom 30.11.2012 beschriebenen Vorfalls.

49
2. Eine abweichende Bewertung ergibt sich insoweit auch nicht aus dem Vorbringen des Klägers, das beklagte Land entferne in Anlehnung an beamtenrechtliche Vorgaben regelmäßig nach zwei Jahren Abmahnungen aus den Personalakten von angestellten Lehrern.

50
Dieser Sachvortrag ist nicht geeignet, einen auf dem Gleichbehandlungsgrundsatz beruhenden Entfernungsanspruch zu begründen. Der als Anspruchsteller darlegungspflichtige Kläger hat nicht ausreichend substantiiert vorgetragen, dass das beklagt Land aufgrund einer vorgegebenen allgemeinen Ordnung bei vergleichbaren Fällen Abmahnungen ohne Einzelfallprüfung aus der Personalakte des betroffenen Lehrers nach Ablauf der genannten Zeitspanne entfernt.

IV.

51
Dahinstehen kann, ob die Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Erteilung der Abmahnung bildet. Aus den von dem beklagten Land vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass diese Institution beteiligt worden ist. Der Kläger hat sein zuvor vorgebrachtes pauschales Bestreiten einer solchen Beteiligung nicht weiter aufrechterhalten.

D.

52
Gemäß § 319 ZPO waren die offenbaren Unrichtigkeiten im Urteilstenor, nämlich fehlerhaftes Datum der ersten Abmahnung sowie die nicht in den Tenor aufgenommene, jedoch aus den Entscheidungsgründen eindeutig ersichtliche Teilabweisung der Klage, durch das nunmehr mit der Sache befasste Rechtsmittelgericht (BAG 15.09.2009 – 9 AZR 645/08 – juris Rn. 61) zu korrigieren.

E.

53
Weiter war die erstinstanzliche Kostenentscheidung im Hinblick auf die Verweisung des Rechtsstreits von dem zunächst angerufenen Arbeitsgericht Magdeburg an das Arbeitsgericht Halle nach Maßgabe des § 48 Abs. 1 ArbGG i. V. m. § 17b Abs. 2 Satz 2 GVG; 281 Abs. 3 Satz 2 ZPO von Amts wegen (§ 308 Abs. 2 ZPO) zu korrigieren.

54
Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

F.

55
Gegen diese Entscheidung findet ein weiteres Rechtsmittel nicht statt. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor. Den entscheidungserheblichen Rechtsfragen kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Die Kammer weicht mit ihrer Entscheidung auch nicht von höchstrichterlicher Rechtsprechung ab.

56
Auf § 72a ArbGG wird hingewiesen.

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